Roland, Hubert
[UCL]
Neben der Komponente der kollektiven Traumaverarbeitung von äußerst gewalttätigen historischen Prozessen, die in der internationalen Kritik von Eugene Arva untersucht worden ist,47 will ich schließlich noch auf folgende konstitutive Merkmale eines deutschsprachigen Korpus des historischen Magischen Realismus aufmerksam machen: eine besondere Raumpoetik, die Landschaften und Schwellenorten eine existenzielle Kraft verleiht (wie exemplarisch in Langgässers Erzähltexten oder in Hermann Kasacks damals viel beachtetem Nachkriegsroman "Die Stadt hinter dem Strom", 1947); eine unmissverständliche Vorliebe für Identitätsstörungen, die ebenso oft mit der Überarbeitung von Traumata zusammenhängen, was aus dem Magischen Realismus ein besonders geeignetes Mittel für die Darstellung von imaginären Kriegswelten macht (so in den Erzählungen eines George Saiko aber auch in Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung", 1948); die schon angedeuteten epiphanischen Augenblicke als Manifestationen einer Bewusstseinsspaltung und -erweiterung (so auch in ausgewählten Passagen von Hans Henny Jahnns Roman Die Niederschrift des Gustav Anias Horn); eine implizit kontradiktorische Logik von poetischer Verschlüsselung und Enträtselung mit starken historisch-politischen Implikationen unter anderem im Sinne einer (in Langgässers Roman Der Gang durch das Ried vorbildlich vertretenen) Ästhetik der Subversion, dies nicht nur in der Literatur der „inneren Emigration“, sondern auch in ausgewählten Texten der Exilliteratur wie Anna Seghers’ Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen" (1946), die soweit nicht von der Forschungsliteratur in Betracht gezogen waren.48 Mit Seghers bestätigt sich die fruchtbare Interpretationsachse einer Reflexionsfläche der Ortsgestaltung und einer Semantik der Grenzorte und weiteren unbestimmten (topographischen und existenziellen) Zwischenräume, einen Weg, den sowohl Scheffel als auch Leine aus unterschiedlichen Perspektiven schon eröffnet haben.


Bibliographic reference |
Roland, Hubert. Deutschsprachiger und internationaler Magischer Realismus: die Anpassungsfähigkeit einer Poetik der Wirklichkeitsverwandlung. In: Bettina Bannasch/Petro Rychlo (Hg.), Formen des Magischen Realismus und der Jüdischen Renaissance, Vandenhoeck & Ruprecht unipress : Göttingen 2021, p. 41-59 |
Permanent URL |
http://hdl.handle.net/2078.1/257720 |