Erfurt, Jürgen
[Universität Frankfurt am Main]
De Knop, Sabine
[USL-B]
In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden in der Sprachtheorie neue Forschungsansätze entwickelt, die unter den Labels der Konstruktionsgrammatik (KG, engl. CxG) und der Kognitiven Linguistik (KL, engl. CL) bekannt geworden sind. Die Gemeinsamkeit dieser beiden Theorien(-bündel) besteht darin, dass sie die Postulate des sprachwissenschaftlichen Mainstreams Chomskyscher Prägung und dessen Konzepte der Universalgrammatik, des Nativismus und des Spracherwerbs ablehnen. In diesem Sinne haben sich einige der Hauptvertreter der KG wie Adele Goldberg, William Croft, Michael Tomasello immer wieder dezidiert geäußert. Sie gehen davon aus, dass Sprache und Sprachen in der sozialen Interaktion funktionieren und erklärt werden können. Zentraler Gedanke dieser neuen Forschungsansätze ist der enge Zusammenhang zwischen Kognition und Sprache und die Einbettung der Sprache in die kulturelle Entwicklung. Dabei spielen Konzepte wie Kooperation und Interaktion eine wesentliche Rolle. Konstruktionsgrammatik und Kognitive Linguistik stimmen dabei in folgenden Prämissen überein: - Sprache ist keine autonome Fähigkeit oder Instanz, sondern beruht vielmehr auf allgemeinen kognitiven Fähigkeiten; - sprachliches Wissen ergibt sich aus dem Sprachgebrauch (engl. 'usage-based'); - grammatische Strukturen sind das Ergebnis menschlicher Konzeptualisierungs-prozesse (siehe auch Ziem & Lasch 2013: 2). Die Konstruktionsgrammatik stellt sich weiter das Ziel, ein umfassendes Modell sprachlicher Strukturen zu entwickeln. „Anders als in transformationsgrammatischen Ansätzen geht die Konstruktionsgrammatik dabei von einer ‚monostratalen’ und oberflächenorientierten Grammatik aus; das heißt insbesondere, dass keine sprachlichen Tiefenstrukturen und abstrakten, formal-universalen Einheiten oder (Transformations-)Regeln angesetzt werden zur Erklärung, wie eine Grammatik ‚funktioniert’. Stattdessen gelten neben lexikalischen Elementen auch grammatische Strukturen als bedeutungstragende Einheiten. Solche so genannten Konstruktionen – konventionalisierte und nicht-kompositionelle Form-Bedeutungspaare verschiedenen Abstraktionsgrades – bilden den zentralen Untersuchungsgegenstand der Konstruktionsgrammatik“ (Ziem & Lasch 2013: 1). Die KG postuliert sprachliche Einheiten, d.h. sogenannte Konstruktionen, die als Form-Bedeutungspaare den Status von sozial geteiltem Wissen haben und somit das – immer nur vorläufige – Ergebnis von Konventionalisierungsprozessen innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft sind. Bei Konstruktionen handelt es sich um kognitive Verfestigungen (engl. entrenchment) im sozialen Wissen von SprachbenutzerInnen. In ihrem ersten Buch (1995) sieht Goldberg die Nicht-Kompositionalität als eine definitorische Eigenschaft von Konstruktionen. Damit ist gemeint, dass die Bedeutung einer Konstruktion sich nicht aus der Bedeutung der einzelnen Konstituenten der Konstruktion ableiten lässt. In ihrem späteren Werk (2006) bildet dieses Charakteristikum kein obligatorisches Prinzip mehr, um von Konstruktionen zu reden, solange diese Strukturen in einer Sprache fest verankert sind, d.h. mit genug Frequenz vorkommen. Das konstruktionistische Modell postuliert, dass die Gesamtheit an Konstruktionen einer Sprache in einem strukturierten Inventar organisiert ist. Konstruktionen ergeben sich aus Generalisierungs- und Schematisierungsprozessen und haben schon auf der abstrakten Ebene eine eigene Bedeutung. Im deutschsprachigen Raum ist die Beschäftigung mit Konstruktionsgrammatik ein relativ rezentes Phänomen. Innerhalb von kaum mehr als zehn Jahren avancierte sie zu einem vielversprechenden Forschungsansatz , bei dem deutliche Überschneidungsbereiche mit anderen Forschungsansätzen auszumachen sind. So haben die intensiven Debatten um die Erforschung von Mündlichkeit (vs. Schriftlichkeit) und von sprachlicher Interaktion in Form von korpusbasierter Gesprächs-/Konversations-/Dialoganalyse, wie sie sich seit den 1980er Jahren etabliert haben, nicht nur den Blick für die diesen Datenbereichen angemessenen theoretischen und methodologischen Konzepte geschärft, sondern auch das Nachdenken über das Selbstverständnis von Sprachwissenschaft und Sprachtheorie befördert, exemplarisch ausgedrückt durch das Postulat von Peter Auer (2005) einer „realistischen Sprachwissenschaft“. In diesem Sinne zeigte Auer in seiner Studie über „Online-Syntax“ auf, wie kognitive Verarbeitungsprozeduren in der Interaktion, soziale und sprachliche Verhältnisse in der Kommunikation und (die Herausbildung) sprachliche(r) Strukturen ineinandergreifen und in einem kohärenten theoretischen Rahmen analysiert und interpretiert werden können. Gemeinsam ist den verschiedenen Forschungsansätzen der KG und der interaktionalen Linguistik (IL), dass sie ihre Daten aus dem realen Gebrauch von Sprache beziehen und sich deshalb als ‚gebrauchsbasiert’ (‚usage-based’) definieren. Dem gebrauchsbasierten Ansatz folgend teilen KG und IL über einen gemeinsamen Gegenstandsbereich hinaus auch zentrale linguistische Erkenntnisinteressen; ihnen geht es gleichermaßen um einen nicht-reduktionistischen Sprachzugang, der sich nicht auf kontextfreie Beschreibungen und Erklärungen sprachlicher Phänomene beschränkt. Was aber unterscheidet diese beiden Forschungsansätze? Dieser Frage nachzugehen stellt einen Schwerpunkt dieses Bandes dar. Ziel dieses Schwerpunkts wäre, die Spezifik dieser beiden Forschungsansätze herauszuarbeiten, um besser zu verstehen, welche Wege der Beschreibung und Erkenntnis sie erlauben. Folgende Fragestellungen können behandelt werden: - Inwiefern tragen verfestigte Konstruktionen zur sozialen Interaktion bei? - Wie lassen sich Konstruktionen, die in der Interaktion entstehen, erfassen und beschreiben? Konstruktionsgrammatische Forschungen erstrecken sich bislang in ihrer überragenden Mehrzahl auf einzelsprachliche Phänomene, überwiegend des Englischen, in wachsender Zahl des Deutschen (vgl. Fußnote 1), in sehr geringer Zahl auf romanische Sprachen (Bouveret/Legallois 2012, De Knop/Mollica 2013, Legallois/François 2008) und nur selten auf Sprachen anderer Sprachfamilien. Dabei fällt auf, dass absichtlich oder unabsichtlich ein monolingualer Beschreibungsmodus gewählt wird und das Faktum der Mehrsprachigkeit weitestgehend unberücksichtigt bleibt. Konstruktionsgrammatische Untersuchungen zur Sprachpraxis und zu sprachlichen Lernprozessen von zwei-/mehrsprachigen Personen stehen noch am Anfang. Als eine der ersten Studien knüpft auch Haberzettl (2007) an Erkenntnisse Tomasellos und insbesondere an die Forschungen von Wong-Fillmore (1976) an, ohne sich allerdings schon auf eine eigene empirische Basis stützen zu können. Erste empirisch gestützte Untersuchungen sind in De Knop & Gilquin (2016) zu finden, und Arbeiten wie die von Wasserscheidt (2015) im slawistischen Kontext, Höder (2014) im skandinavistischen und Streb (2016) im romanistischen Kontext zeugen davon, dass sich konstruktionsgrammatische Forschungsansätze nun auch bilingualer Sprachpraxis bzw. der Mehrsprachigkeit annehmen. Der zweite Schwerpunkt des Bandes soll somit darin bestehen zu diskutieren, in welcher Weise die Konstruktionsgrammatik im Kontext mehrsprachiger Sprachpraxis und des Sprachenlernens produktiv zu machen ist. So werden unter anderem folgende Fragestellungen im Mittelpunkt stehen: - Bieten z.B. solche als Fossilisierung bezeichneten Prozesse oder Interlanguage-Phänomene eine Datenbasis für konstruktionsgrammatische Beschreibungen? - Besitzen Lerner einer Fremdsprache schon fremde Konstruktionen? - Wenn anzunehmen ist, dass Konstruktionen in der Erstsprache in Konkurrenz zu denen in der Fremdsprache stehen, inwiefern beeinflussen dann L1-Konstruktionen das Erlernen der Fremdsprachenkonstruktionen? - Welche Fremdkonstruktionen sollen Teil des zu erlernenden Inventars


Bibliographic reference |
Erfurt, Jürgen ; De Knop, Sabine. Konstruktionsgrammatik und Mehrsprachigkeit. Universitätsverlag Rhein-Ruhr OHG. : Universität Duisburg-Essen (2019) (ISBN:978-3-95605-059-6) 208 pages |
Permanent URL |
http://hdl.handle.net/2078/187694 |